Zwist vs. Einheit

Die Welt zerreißt, so scheint es. Die Gräben zwischen den Menschen werden tiefer, Aggressionen lodern auf, und Probleme werden nicht gelöst, sondern für nicht-existent erklärt oder verboten. Man feiert nicht das Miteinander und gemeinsame Errungenschaften, sondern sucht das Heil in Polarisierung.
„Wir schaffen das“ wurde angefeindet, Einsatz und Mut wurden unattraktiv, Opfertum zum positiven Alleinstellungsmerkmal der geistig und biologisch Überlegenen erklärt. „The fundamental weakness of Western Society is empathy“ diagnostiziert Elon Musk, ohne den notwendigen Widerspruch zu erfahren.
Gut gegen böse, wir gegen die – das basiert auf alten, womöglich genetisch vorprogrammierten menschlichen Überzeugungen, die sich in den Anfangstagen der Menschheit augenscheinlich als hilfreich erwiesen haben. In einer feindlichen Umwelt stellte jeder Fremde eine potentielle Gefahr dar.

Aber Vorsicht ist etwas anderes als Feindschaft. Die ist eine angelernte Haltung. Jedes Baby schaut zuerst nach der Reaktion seiner Mutter, wenn ein Fremder das Haus betritt. Lächelt Mama, zeigt keine Zeichen von Angst und bittet den Unbekannten herein, bleibt auch das Baby ruhig. Häufen sich derartige Ereignisse, entwickelt das Kind eine positive Einstellung zu den Mitmenschen. Leidet Mama aber beispielsweise an einer Angststörung, ist das Baby nicht in der Lage zu unterscheiden, ob die sich ihm mitteilende Veränderung der Stimme, der Atmung und des Herzschlags der Mutter deren individuelles Problem repräsentiert oder eine allgemeingültige Wahrheit über das Verhältnis der Menschen untereinander lehrt. Es lernt Letzteres.
Insofern irrt Elon Musk. Eine freundliche Grundeinstellung, die sich in Einfühlungsvermögen äußert, ist eine fundamentale Stärke des Menschen, die das Leben nicht nur vereinfacht, sondern auch angenehmer macht.

Mutter und Baby

Aus einem zweiten Grund liegt er falsch. Das Lesen der Emotionen anderer gehört zur Grundausstattung des Menschen. Organisiert wird es durch Spiegelneuronen, die Gefühlsäußerungen des Gegenüber innerlich miterleben und dadurch verstehen lassen. Schon Babys erkennen aus kleinsten Veränderungen der Gesichtszüge ihrer Eltern, ob Ruhe oder Unruhe angesagt ist, und reagiert entsprechend. Freundliche beruhigende Worte, die aus angespannter Kiefermuskulatur herausgepresst werden und mit starrem Gesichtsausdruck übermittelt werden, können kein Baby täuschen, weshalb sie sich oft nicht zur Ruhe bringen lassen, weil die inkongruenten Maßnahmen nicht überzeugen. Fragen Sie Eltern, wie gut es ihnen gelingt, ihre schreienden Kinder in den Schlaf zu wiegen, wenn sie gestresst und nervös sind.
Ohne die Funktion der Spiegelneuronen wäre es Babys ganz und gar unmöglich, die Gefühlslage ihrer Eltern zu erkennen. Sie würden freundliche Gesichter, warmherzige Stimmen und liebevolle Gesten als neutral und nichtssagend auffassen – und trotz Liebe und Zusammengehörigkeit vereinsamen.
Grausame Experimente im Mittelalter, in denen Neugeborene jegliche Zuwendung in Form von Berührung, Worten, Liedern und liebevoller Anregung aller Art vorenthalten wurde, um herauszufinden, wie sie sich unbeeinflusst und vermeintlich neutral entwickeln würden, scheiterten tragisch: die Kinder entwickelten sich gar nicht. Sie starben. Ähnlich finstere Folgen konnte man bei den verwahrlosten Kindern in den befreiten Kinderheimen Rumäniens nach dem Fall der Ceausescu Diktatur in Rumänen beobachten. Durch emotionale Vernachlässigung verursachte Entwicklungsschäden lassen sich oft auch dann nicht mehr gutmachen, wenn man die Kinder fortan nicht mehr nur mit Essen und Kleidung, sondern ebenso mit Zuwendung in Gemeinschaft liebevoller Menschen versorgt.
Natürlich kann man auch später im Leben schlechte Erfahrungen machen, die einen veranlassen, Empathie nicht nur negativ zu finden, sondern sie innerlich zu betäuben, eine Form des Gefahrenschutzes, wenn man missbraucht und betrogen wurde. Es führt aber zu einer allgemeinen Abstumpfung und damit zu einer generellen Einschränkung der Lebensqualität.

Heute verwendet man den Begriff „Soziopath“ als Definition für Menschen, die entweder nicht oder nur eingeschränkt Mitgefühl zeigen können und sich nur schwer in andere hineinversetzen und die Folgen ihres Handelns nicht abwägen können.
Um der innerlichen Betäubung zu entgehen, muss man sich seiner Empathie besinnen, seine Wahrnehmung der Welt erweitern, nicht einschränken.
Dazu gehört nicht nur ein abstraktes Wissen der Einheit der Menschen, sondern eine direkten Erfahrung. Was meditierende Buddhisten anstreben und in Augenblicken dessen, was sie „Erwachen“ nennen, erleben, ist die Erfahrung des Einsseins mit allem, die Aufhebung der Abspaltung zwischen dem, was man denkt, und dem, was ist. Es geht einher mit einem Gefühl des Glücks und der Befreiung.

Darüber mehr im zweiten Teil dieses Artikels.

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